Hölszky: Giuseppe e Sylvia (2024)

Soli: KolSMezATTBarB – Ch.KiCh – 1.1.1.1. – 1.2.2.1. – perc(3) – Hfe.Git – Klav.Cemb – Str 2.0.2.2.1


Uraufführung: Stuttgart, Staatsoper, 17. November 2000

Die Begegnung zwischen Giuseppe Verdi und Sylvia Plath beherrscht ein Filmteam, dessen Regisseur sich von dieser Zusammenführung nicht die Erforschung biographischer Neuentdeckungen, sondern die „Rettung der Toten“ verspricht. Jene, über deren Weiterleben verfügt wird, deren Werke erbarmungslos dem Leben und den Lebenden und deren Vorstellungen angepasst werden, sollen selbst die Möglichkeit haben, in einer neu zu entdeckenden Freiheit sie selbst zu sein: der große Komponist, der sein Leben vor den Menschen verbarg, der versuchte, alle privaten Details, die an die Öffentlichkeit gelangen könnten, zu beherrschen oder zu vernichten, über sein Gefühlsleben einen Schleier breitete und nach seinem Tod der Welt seine Werke als einziges Vermächtnis hinterlassen wollte. Und die junge Autorin Sylvia Plath, die lebenslang von ihren Zweifeln und nagenden Selbstvorwürfen Zeugnis ablegte, deren Innenleben sich scheinbar vollkommen in ihren erbarmungslosen Notizen zu spiegeln schien, welche aber nach ihrem Freitod zum großen Teil von ihrem Mann Ted Hughes vernichtet wurden und so Raum zu endloser Spekulation und Anlass zu befangenen Interpretationen bieten. Sie beide sind verabredet, um miteinander zu sprechen, nicht im Reich des Todes, sondern konkret, im Leben. Sie reisen zueinander, um den Raum ihrer Biographien weiter hinter sich zu lassen.

Für dieses große Experiment muss auch Rudolfo, Kellner in der Bar Ridente, dem Ort der Ereignisse, in das Reich der Toten tauchen. Nun kann die Geschichte beginnen: doch seltsam, die Toten haben andere Vorstellungen, sie lassen sich nicht in eine Imagination, schon gar nicht auf Zelluloid bannen. Ihre eigenen Interessen, besonders aber ihre sehr lebendige Neugier aufeinander manipuliert die Realität selbst. Diese entgleitet der Aufzeichnung, widersetzt sich der Erzählbarkeit, es entsteht eine neue Geschichte, in deren Sog auch der Regisseur und sein Team geraten und fortgerissen werden. Verdi und Plath begegnen sich nicht im „reinen“ Raum der Imagination, sondern im prallen Leben, sie entwickeln an sich und der Situation Lust und Sinnlichkeit, und mit den sich überstürzenden Ereignissen kommen sie plötzlich doch wieder, werden mächtig und handlungsbestimmend: die Erinnerungen.

Hans Neuenfels lässt mehrere Ebenen von Erzählungen ineinanderfließen: die Geschichte, die Literatur, die Reflexion über Kunst und Markt, die Suche nach den Toten und die Suche nach dem Leben. Im Kosmos der Begegnungen erfährt nicht der Einzelne sich selbst, sondern die Lebenden und Toten machen gemeinsam eine Reise aus der Spekulation in die Realität der Phantasie.

Adriana Hölszky setzt in Giuseppe e Sylvia eine Schreibweise fort, die sie schon in der durch komplexe Chöre strukturierten Oper Die Wände nach Genet begonnen hatte: Live Chor- und Orchesterstimmen sind äußerst differenziert miteinander und mit ihren live-elektronischen Verfremdungen verschachtelt oder verzahnt. Hinzu kommen Zuspielbänder und Samples, sowohl mit Chor als auch mit Instrumentalaufnahmen, die zum gegenseitigen Kommentar der verschiedenen medialen Ebenen eine gewichtige weitere hinzufügen. Die akustische „Ortsbestimmung“ des Geschehens wird so auf vielfache Weise gebrochen: der Klang „wandert“ nicht nur zwischen den verschiedenen Medien, sondern er „wandert“ auch real zwischen Orchestergraben, Bühne und den vielfältigen Klangquellen im Raum.
(Juliane Votteler)

Bibliografie:

Interview Wilfrid Jochims mit Adriana Hölszky, in: Glücksmomente. Zur Einweihung des neuen Hauses der Hochschule für Musik und Theater Rostock, hrsg. von Wilfrid Jochims, Rostock: Konrad Reich, 2001, S. 106-111.
Büning, Eleonore: Bringen Sie uns schnellstens nach Oldenburg. „Giuseppe e Sylvia“ von Adriana Hölszky, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juni 2001.
Hiekel, Jörn Peter: Mehrdimensionale Erinnerungsfelder. Zur Musik von „Giuseppe e Sylvia“, in: Programmheft „Giuseppe e Sylvia“, Staatsoper Stuttgart, November 2000, S. 56-61, auch in: Programmheft des Staatstheaters Oldenburg, Juni 2001, S. 23-31.
ders.: „Glattes Eis, ein Paradeis ...“. Theatrale Aspekte im Werk von Adriana Hölszky, in: Dissonance, Heft 81, Juni 2003, S. 10-15.
Hoffmann, Anke: Verdi & Plath, in: Programmheft „Giuseppe e Sylvia“, Staatstheater Oldenburg, Juni 2001, S. 33-43.
Kostakeva, Maria: Die Oper als Illusion oder Die Illusion als Oper? „Giuseppe e Silvia“ von Adriana Hölszky, in: Musical Theatre - Yesterday, Today, Tomorrow. Programmbuch der 17. Slovenian Music Days 2002, S. 269-280.
dies.: Metamorphose und Eruption. Annäherung an die Klangwelten Adriana Hölszkys, Hofheim: wolke 2013 (S. 176-191).
Petersen, Peter: Adriana Hölszkys „Opern“. Theatrale Musiksprache und vokal-instrumentales Theater, in: Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst. 21 Perspektiven zum Musiktheater, hrsg. von Bettina Knauer und Peter Krause, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 85-108.
ders.: Adriana Hölszkys „Opern“. Theatrale Musiksprache und vokal-instrumentales Theater, in: Ankommen: Gehen. Adriana Hölszkys Textkompositionen, hrsg. von Wolfgang Gratzer und Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott 2007, S. 29-43.
Unseld, Melanie: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u. a.: Böhlau 2014 (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis, Band 3), darin S. 318-336.

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